Arbeitslosenquote als alleiniger Förderindikator untauglich

Ein Memorandum für einen gerechteren Finanzausgleich

Im Juni 2006 fordern die Städte des Ruhrgebiets und des Bergischen Landes zur Gemeindefinanzreform1) u. a., dass der infrastrukturelle Finanzausgleich zwischen den Kommunen im Osten und Westen gesamtdeutsch zu entwickeln ist. Die Solidarbeiträge der hoch verschuldeten westdeutschen Kommunen sind nicht mehr zu finanzieren. Im vorliegenden Heft werden die Forderungen der Ruhrgebietskämmerer erörtert.

 

Ein Einigungs-Lastenausgleich wäre hilfreich


Der Aufbau Ost ist fehlfinanziert. Er ist am Faktor Arbeit, speziell an den Sozialversicherungsbeiträgen festgemacht worden.

-         Das belastet einseitig die Beschäftigten, vor allem die Sozialversicherungs­pflichtigen.

-         Es verteuert den Faktor Arbeit (höhere Lohnnebenkosten). Der Transfer vom Westen nach Osten belastet die Sozialversicherung jährlich um ca. 24 Milliarden Euro. Nach Berechnungen des BMAS für Westdeutschland könnte der Beitragssatz zur Sozialversicherung jährlich um 3 v.H. niedriger liegen, gäbe es nicht die Fehlfinanzierung Aufbau Ost.

-         Das mindert die Binnenkaufkraft.


Sehr viel intelligenter wäre eine Finanzierung über einen „Lastenausgleich“2).
In einer staatlichen Ausnahmelage (z. B. Wiedervereinigung) erlaubt die Ver­fassung einen Zugriff auf die Vermögenssubstanz. So konnte das Lastenaus­gleichsgesetz vom 14.08.1952 (BGBl. I, 446) die Vermögenssubstanzen zur Finanzierung der Kriegsfolgelasten beanspruchen. Das LastenausglG sah eine Besteuerung des Vermögens zu einem bestimmten, zurückliegenden Stichtag vor. Es erhob Abgabensätze von 50 % des Vermögenswertes (letzte viertel­jährliche Rate fällig 1979).

Aber auch eine alternative Finanzierung über einen Lastenausgleich würde über untaugliche Indikatoren weiterhin die Fördermittel falsch verteilen.

 

Arbeitslosenquote als alleiniger Verteilungsschlüssel untauglich3)


Familienmodelle und Erwerbstätigenquoten (Erwerbsquoten) der DDR und der Bundesrepublik wirken in 2006 nach. Das westdeutsche Modell der Alleinver­diener-Ehe wandelt sich in das „Vereinbarkeitsmodell der Versorgerehe“ (Mann/Vollzeit + Frau/Teilzeit). Im Osten wird weiterhin das „Doppel-Versorgermodell mit (staatlicher) Kinderbetreuung“, also das Modell „Beide Vollzeit“ bevorzugt.

Gesamtdeutsch hat sich die Frauen-Erwerbstätigenquote einander angenähert. Aber: Die Erwerbs­quote ostdeutscher Frauen lag 2004 um fast neun Prozent­punkte (73,4 %) über der im Westen (64,5 %). Das liegt an der Erwerbslosen­quote im Osten (15 %) im Verhältnis zu der niedrigeren der West-Frauen (5,6 %). Die Vollzeit-Erwerbsorientierung ostdeutscher Frauen ist ungebrochen, während die Frauen im Westen eher in die Stille Reserve ausweichen.

Die stärkere Erwerbsorientierung ostdeutscher Frauen zeigt sich auch im Ver­gleich „Mann - Frau“. Im Westen hat sich bis 2004 die Erwerbsquote der Frauen (64,5 %) langsam der Männerquote (80,4 %) angenähert, jedoch noch 15,9 Prozentpunkte niedriger. Der Abstand ist im Osten mit 6,5 Prozent­punkten (Frauen 73,4 %; Männer 79,9 %) deutlich geringer. Ist also die ver­dichtete Ge­samt-Arbeitslosenquote (Frauen + Männer) nicht irreführend, wenn sich da­hinter solch unterschiedliche Erwerbsquoten (Erwerbstätigen­quoten + Er­werbslosenquoten) verbergen? Und wird diese nicht durch die anders verteilten Arbeitsvolumina verzerrt? Antwort: „Ja“. Es ist ein deutlich größerer Anteil ostdeutscher Frauen weiterhin erwerbstätig. Sie sind stärker erwerbsorientiert, suchen häufiger als Arbeitslose nach Arbeit (Vollzeit). Die Teilzeitquote der ostdeutschen Frauen stieg zwar an (von 12 % in 1991 auf 38,1 % in 2004), liegt aber unter der im Westen (51,1 %). Zudem beträgt der Umfang ihrer Teil­zeitarbeit fast zwei Drittel einer Vollzeitstelle (im Westen ungefähr halbe Voll­zeitstelle); sie bevorzugen also vollzeitnahe Stellen. Die Frauenanteile am Ar­beitsvolumen (Ost 45,7 %; West 39,9 %) liegen in Ost­deutschland höher. D. h.: Der größere Frauenanteil an der ostdeutschen Be­schäftigung bindet dort deut­lich mehr Anteile am gesamtgesellschaftlichen Arbeitsvolumen.

Fazit: „Hohe Arbeitslosenzahlen“ sind wegen der unterschiedlichen Erwerbs­quoten, Erwerbs­losenquoten und Arbeitsvolumina als Verteilungsindikator untauglich für den innerdeutschen Vergleich. Daher ist eine Lenkung der Finanzförderströme in Deutschland (u. a. Aufbau Ost) alleine über den Indika­tor „hohe Arbeitslosenzahl“ irreführend und verteilungsungerecht. Er führt innerdeutsch zu einer Fehlverteilung knapper Haushaltsmittel, muss daher um zusätzliche Indikatoren ergänzt werden.

 

Ergänzende Förderkriterien notwendig


Aussagefähiger für Vergleiche zwischen Ruhr­gebiets-Städten und ostdeut­schen Städten ist die Ergänzung der Kennziffer „Arbeitslosenquote“ um zusätzliche Indikatoren wie die Altersklassen der Arbeitslosen (Ruhrgebiet: viele „Sozialpläner“) und vor allem die Geschlechterverteilung bei den Er­werbs­losen und den Erwerbspersonen (= Erwerbstätige und Erwerbslose). Dazu gehören aufgeschlüsselte Erwerbstätigen- bzw. Beschäftigungsquoten sowie die jeweiligen Anteile am Arbeitsvolumen.

Derart aufgeschlüsselte Arbeitslosen- und Erwerbstätigenquoten als Kenn­ziffern reichen nicht aus, um die Finanzströme in Deutschland „gerecht“ zu lenken. In einem unveröffentlichten Inter­view führte Peer Steinbrück als Ministerpräsident von NRW dazu aus: „Ich möchte sie nicht als alleinige Kennzahl verwenden. Die Arbeitslosenquote ist ohne Zweifel ein wichtiger Indikator dafür, wo der Bedarf an regionaler Strukturförderung am größten ist. Zusätzlich würde ich aber auch das Ein­kommensniveau, also das Bruttoin­landsprodukt pro Kopf, in einer Region als Maßstab heranziehen, ...“.4) Dazu nannten er und sein damaliger Minister, Michael Vesper, als weitere Kriterien für die Förderwürdigkeit die Zahl der Sozialhilfeempfänger (Aus­gabensumme für Sozialleistungen), das verfügbare Pro-Kopf-Ein­kommen, die Qualität der Wohnungen (Eigen­heimanteil; Anteil Eigentums­wohnungen; ...), die Güte der Infrastruktur. Der jetzige Minister für Bauen und Verkehr des Landes Nordrhein-Westfalen, Oliver Wittke, führte zusätzlich die Investitionsquote an. Ungleich höher sind die Ruhrgebietsstädte finanziell durch hohe Ausländeranteile und Aussiedleranteile („Migranten“) belastet.

Welche alternativen Kennziffern ergänzend zu der oder an die Stelle der Arbeitslosenzahl(en) gesetzt werden könnten, das ist von Experten und Politik abzustimmen. Nach den westdeutschen Kämmerern soll künftig nicht mehr die geographische Lage („Himmelsrichtung“) darüber entscheiden, ob eine Kommune ausreichende Finanzmittel aus den Fonds erhält oder nicht. Aber, so der Kämmerer der Stadt Mülheim/Ruhr Uwe Bonan: „Es müssen andere Krite­rien gelten, entweder die Strukturschwäche, die Höhe der Arbeitslosigkeit oder - in den Worten von Hartz IV - die Anzahl der Bedarfsgemeinschaften‘‚ ...“.5)

 

Noch Chancen für eine gerechtere Lastenverteilung „Aufbauhilfe Ost“


Nicht alle Deutschen sind blind für die finanziellen Folgen in das Abenteuer „Wiedervereinigung“ hineingestolpert. So hat Klaus von Dohnanyi sehr präzise vorausberechnet, was „Das Deutsche Wagnis“6) kosten wird. Er schätzte einen Zuschußbedarf von ca. 130 Mrd. DM/a, was nach 1990 ziemlich genau dem Mittelabfluß nach Osten entsprach.

          Auch den Bewohnern der DDR war bekannt, „..., daß nur das verbraucht werden kann, was vorher erarbeitet wurde.“7) Leider haben sie sich nicht daran gehalten, scheiterten u. a. an den von der DDR-Wirtschaft nicht leistbaren Sozialausgaben.

          Also drängen wir auf eine anders finanzierte („Lastenausgleich“) und auf eine mit aussagefähigeren, gerechteren und trag­fähigeren Kennziffern gesteuerte „Aufbauhilfe Ost“! ‑ ‑

 

 

1)      Scholz, O./Busch, M. (Bochum) et al.: Finanzielle Zukunftsfähigkeit der Städte sichern - Forderungen der Städte des Ruhrgebiets und des Bergischen Landes zur Gemeindefinanzreform. Bochum/Bottrop/... (09.06.2006)

2)      Schweres, M.: Notopfer für den Aufbau Ost. In: Südd. Zeitung Nr. 195/ 26.08.2003, S. 2 - Sehr viel intelligenter wäre also eine Finanzierung über einen „Lastenausgleich“ gewesen. In der CDU haben dafür u. a. Prof. Biedenkopf und (Alt-)Bundespräsident v. Weizsäcker geworben. In der SPD hat u. a. Günter Grass (Grass, G.: Deutscher Lastenausgleich; Frankfurt/M. 1990) einen Lastenaus­gleich gefordert. Die Grünen haben dazu in 2003 einen Beschluss für einen „Einigungslastenausgleich“ auf ihrer Bundesdelegiertenkonferenz in Cottbus gefasst (siehe Schweres 2003).

3)      Schweres, M.: Wie sieht es aus mit der Erwerbstätigkeit? Vom Aussagewert der Kennziffern. In: Arbeitsrecht im Betrieb 27 (2006)8, S. 477 - 482 - (Typoskript „Erwerbstätig­keit in den neuen Ländern aus Geschlechterperspektive - Frauenbe­schäftigung Ost im Vergleich“; Duisburg-Rheinhausen 06.03.2006)

4)      Steinbrück, P.: Aussagen von Ministerpräsident Peer Steinbrück zur Standort­politik in Deutschland. Typoskript vervielf., Staatskanzlei NRW, Düsseldorf (05.11.2003). - Vgl. Steinbrück, P. et al.: Methode Rasenmäher bleibt. ... Streit um die Standortpolitik in Ost und West. In: Rhein. Post Nr. 181/07.08.2003. - Gaugele, J./Quoos, J.: Ein Sparkassendirektor ... Aufbau Ost. In: BILD am SONNTAG 07.09.2003. - Vesper, M.: „Auch im Westen leiden Städte“. Vesper will neue Förderkriterien. In: Südd. Zeitung Nr. 201/02.09.2003, S. 2

5)      Wölk, A.: Aufbau Ost beutelt Revier. 17 Oberbürgermeister und Kämmerer fordern einen gerechteren Finanzausgleich. WAZ Nr. 133/10.06.2006

6)      Dohnanyi, K. von: Das deutsche Wagnis. Über die wirtschaftlichen und sozialen Folgen der Einheit. München (1990)

7)      Honecker, E.: Bericht des Zentralkomitees. IX. Parteitag der SED, Berlin, 18. bis 22. Mai 1976 ‑ ‑