I. Ausgangslage Es besteht ein breiter politischer und gesellschaftlicher Konsens, dass die Orientierung an einem nachhaltigen Wirtschaften erforderlich ist, um die Zukunftsfähigkeit Deutschlands unter sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu sichern. Dies beinhaltet die Sicherung des sozialen Zusammenhalts und der Entwicklungschancen der Menschen, einen effizienten und schonenden Umgang mit Rohstoffen und Energie wie auch wirtschaftlichen Erfolg. Dabei gibt es eine breite Zustimmung von Politik, Wirtschaft, Sozialpartnern und der Wissenschaft, dass qualifizierte, leistungsfähige und motivierte Beschäftigte eine notwendige Voraussetzung für wirtschaftlichen Erfolg sind. Letztlich können bei weltweiter Verfügbarkeit vergleichbarer technologischer Ausstattung die Produktivitäts- und Innovationsvorteile nur über den Erhalt und die Nutzung der Kreativität und der Kompetenz der Beschäftigten in der Arbeit dauerhaft erhalten werden. Die Pflege und Entwicklung dieser aufgeführten Faktoren hat in der Vergangenheit zu gesellschaftlichem Wohlstand und wirtschaftlichem Erfolg beigetragen. Forschungsprogramme wie das Programm .Humanisierung des Arbeitslebens" haben mit ihren Ergebnissen seit den 1970er Jahren wichtige Impulse für die Entwicklung der Qualität der Arbeit und Wirtschaftlichkeit der Unternehmen gesetzt. Diese hier genannten Stärken sind durch verschiedene Trends gefährdet. In der Entwicklung von Arbeit tauchen unerwartete Problemlagen auf, und unbekannte Herausforderungen werden sichtbar: Qualifizierte, selbstverantwortliche Arbeit birgt Risiken der Selbstüberforderung; die tayloristische Rationalisierung entsteht in neuer Weise in Arbeitsbereichen, die in der Vergangenheit von kurzfristig orientierter Ökonomisierung weitgehend ausgespart blieben wie bspw. im Gesundheitssektor. Die Folgen dieser Entwicklungen sind an vielen Punkten beobachtbar: Die Zunahme von arbeitsbedingten psychischen Belastungen, ein Ansteigen von psychischen Störungen bei den Beschäftigten, Demotivation oder Einschränkungen der Leistungsfähigkeit sind Schlagworte, die diese Entwicklungen kennzeichnen. Mittel- und langfristig wird damit auch die Leistungs- und Innovationsfähigkeit der Unternehmen gefährdet. Angesichts des verschärften internationalen Wettbewerbs und des beschleunigten technologischen Wandels ist wirtschaftlicher Erfolg nur mit kompetenten, gesunden und motivierten Beschäftigten möglich. Damit gehen auch neue Herausforderungen und Probleme bei der Gestaltung von Arbeit einher. Insbesondere ist dabei dem Tatbestand Rechnung zu tragen, dass sich Dienstleistungsarbeit von Produktionsarbeit unterscheidet und neue Konzepte der Arbeitsgestaltung erfordert. Hier setzt Arbeitsforschung an: Sie analysiert die Problemstellungen, entwickelt Konzepte innovativer Arbeitsgestaltung und unterstützt Unternehmen bei der praktischen Umsetzung. Sie integriert dabei Technik-, Organisations- und Personalentwicklung und ist damit ein wesentlicher Treiber technischer und sozialer Innovationen. Dabei ist die Arbeitsforschung in ihrer praktischen Wirksamkeit immer in übergreifende gesellschaftliche und wirtschaftliche Interessenkonstellationen eingebunden und kann nur in diesem Rahmen praktisch wirksam werden.
II. Neue Entwicklungen und Herausforderungen für die Arbeitsforschung
Es gibt eine Reihe von Entwicklungen, aus denen sich Herausforderungen für die Arbeitsforschung ergeben. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit sind hier zu nennen:
· Selbstverantwortliche Arbeit und Risiken der Selbstüberforderung und Entgrenzung Arbeitsformen wie Projektarbeit, dezentrale Entscheidungen bergen die Gefahr einer Entgrenzung, einer Überforderung, bis hin zur Zunahme psychischer Erkrankungen. Zu fragen ist nach den Ursachen der Paradoxien moderner Arbeit und den Möglichkeiten ihrer Bewältigung.
· Neue Arbeitstypen und ungeklärte Fragen ihrer Organisation Der Wandel von Arbeit ist gekennzeichnet durch das Auftreten neuer Arbeitstypen: Der Interaktionsarbeit, der Wissensarbeit, der Innovationsarbeit. Es fehlen Beurteilungsmaßstäbe für diese neuen Arbeitstypen und für ihre menschengerechte Gestaltung: Was ist ein ganzheitlicher Arbeitsinhalt? Wie wird die Qualität des Arbeitsergebnisses definiert und welche Maßstäbe werden an Effektivität und Effizienz gesetzt? Alle diese Fragestellungen sind für den klassischen Bereich der Produktionsarbeit seit Jahrzehnten geklärt, doch für die neuen Arbeitstypen stehen noch nicht einmal grundsätzliche Lösungen des Arbeits- und Gesundheitsschutzes zur Verfügung.
· Demografische Entwicklung und Fachkräfte Seit über 30 Jahren beschäftigt sich die Arbeitsforschung mit der Gestaltung von Arbeitsplätzen für ältere Arbeitnehmer. Die Arbeitsforschung hat nicht nur die Entwicklung altersgerechter, sondern ebenso auch die von alternsgerechter Arbeit in den Blick gerückt und die Gestaltung altersgemischter Belegschaften vorangetrieben. Die demografische Entwicklung beinhaltet darüber hinaus, dass sich um die wenigen Nachwuchskräfte mehr Institutionen bemühen. Zukünftig sind das sich wandelnde Selbstverständnis und die Erwartungen heterogener Beschäftigtengruppen zu berücksichtigen. Ältere werden möglicherweise neue Beschäftigungs- und Tätigkeitsformen einfordern, die im heutigen Beschäftigungssystem noch nicht vorkommen und vorgesehen sind.
· Andere Lebensphasenmodelle und andere Arbeits- und Beschäftigungsformen Die industrielle Gesellschaft kannte im Prinzip ein Drei-Lebensphasenmodell. In der neuen Entwicklung werden die Phasen nicht nur ausgeweitet und differenziert, sondern verlaufen nicht mehr nur sequentiell: Die Erwerbsarbeit wird durch temporäre Ausstiegsphasen für Kindererziehung, Bildung und die Pflege von Angehörigen unterbrochen. Die Arbeitswelt ist darauf nicht ausreichend vorbereitet und Beschäftigungsverhältnisse müssen neu gestaltet werden.
· Personelle Vielfalt und die Gestaltung der Arbeit Gesellschaft und Belegschaften werden heterogener (Geschlecht, Nationalität und Alter). Nach wie vor haben nicht alle gesellschaftlichen Gruppen die gleichen Chancen am Arbeitsmarkt und in der Arbeit. Hier sind innovative Arbeitskonzepte gefordert. Zudem erfordern heterogene Belegschaftsstrukturen von Unternehmen und ihren Beschäftigten intensive Anstrengungen im Bereich der Führung, Integration in Arbeitsorganisation, betrieblicher Qualifizierung und der Entwicklung der Unternehmenskultur. Hier ist die Unterstützung durch die Arbeitsforschung notwendig.
· Zunehmende Erwerbsarbeit von Frauen und Wandel der Geschlechterverhältnisse Ausgrenzung und Benachteiligung von Frauen ist nach wie vor zu beobachten, sei es bei Frauen in Führungspositionen, sei es in Fragen gleicher Arbeits- und Beschäftigungsbedingungen. Notwendig ist eine geschlechterdifferenzierte Arbeitsforschung. Bei zunehmender Erwerbsbeteiligung von Frauen und Männern stellt sich zukünftig auch die Frage, wie Care- Arbeit (z.B. die Versorgung pflegebedürftiger Menschen, die Erziehung von Kindern) gesellschaftliche organisiert wird.
· "Autonome" Technisierung und Informatisierung - und die Rolle des Menschen Mit Entwicklungen wie der "Industrie 4.0" entstehen neue Visionen vollautomatisierter Produktionssysteme. Die in der Vergangenheit gewonnenen Erfahrungen zu den Unwägbarkeiten komplexer technischer Systeme und der unverzichtbaren Rolle menschlicher Arbeit werden gerade hier brisant und verlangen nach neuen integrierten Konzepten von Technikentwicklung und Gestaltung der Arbeitsorganisation. · Veränderungen von Organisationen und die zunehmende Bedeutung des Informellen In flexiblen und dynamischen Organisationen werden informelle Prozesse und implizites Wissen immer wichtiger. Es entsteht eine Verschiebung von der Organisation zum Organisieren auf allen Ebenen. Es gibt hier allerdings noch kaum Konzepte, wie Arbeit in diesen Kontexten "organisiert" wird. Flexible und dynamische Organisationen stellen die innerbetrieblichen Arbeits- und Kooperationsbeziehungen vor neue Herausforderungen. · Lebenslanges Lernen und Lernen im Prozess der Arbeit Der Forderung eines Lebenslangen Lernens ist nur zu verwirklichen, wenn neben institutionalisierter (Weiter-) Bildung ein erfahrungs- und handlungsorientiertes Lernen in der Praxis und hier speziell im Arbeitsprozess möglich ist. Qualifizierte Arbeit allein ist hierzu förderlich, aber keineswegs ausreichend. Hoher Leistungsdruck und geringe Fehlerakzeptanz stehen einem Lernen im Betrieb entgegen. Es sind daher gezielt neue Strategien lernförderlicher Arbeitsgestaltung zu entwickeln. · Pluralisierung und Heterogenisierung von Arbeit und die Rolle von "bad jobs" Die Arbeitsbedingungen differenzieren sich. Neben einem Trend zu qualifizierterer Arbeit gibt es nach wie vor Arbeiten, die "einfach" sind, die kaum Qualifikationsanforderungen stellen und oft im Rahmen prekärer Beschäftigungsverhältnisse geleistet werden müssen. Damit stellen sich Aufgaben der Arbeitsforschung jenseits der etablierten Humanisierungsziele, die es zukünftig verstärkt in den Blick zu nehmen gilt.
· Prekäre Beschäftigung und neue Beschäftigungsmodelle Seit den 80er Jahren sind verstärkt Teilzeitarbeit, geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit, Solo-Selbständige und befristete Beschäftigungsverhältnisse entstanden. Dazu trat in den letzten 15 Jahren die Niedriglohnbeschäftigung. Inzwischen muss fast ein Viertel der Beschäftigungsverhältnisse als prekär bezeichnet werden. Bisher ist es noch nicht oder nur in Ansätzen gelungen, diese Beschäftigungsformen an Beschäftigungsmodelle rückzubinden, die unterschiedliche Lebensphasen übergreifen. Die Neuausrichtung des Normalarbeitsverhältnisses steht aus. · Internationalisierung und transnationale Arbeitsgestaltung Eine global vernetzte Ökonomie braucht Arbeitsgestaltung, gemeinsame Standards von Arbeitsaufgaben, von Organisation und von Qualifizierung. Unter dem Gesichtspunkt eines gemeinsamen europäischen Lebens- und Wirtschaftsraumes mit seinen transregionalen Netzwerken werden auch neue transregionale und -nationale Formen der Arbeit entwickelt werden müssen, die über eine nationale Arbeits- und Organisationsgestaltung hinausgehen. Arbeitsforschung trägt zur Bewältigung dieser Herausforderungen bei. Sie braucht sich über Mangel an neuen Aufgaben nicht zu beklagen. Sie dient der Gesundheit, Zufriedenheit und Leistungsfähigkeit der Beschäftigten und spielt eine wichtige Rolle bei der Förderung der Innovations- und Konkurrenzfähigkeit von Unternehmen und der Stärkung des Lebens- und Wirtschaftsraums Deutschland. III. Forschungsbedarfe und Gestaltungsfelder Vor dem Hintergrund der aufgezeigten Entwicklungen ergibt sich ein Bedarf an Forschung und Entwicklung 1. zur humanen Arbeitsgestaltung bei neuen Typen und Formen von Arbeit und Beschäftigung, 2. zum beständigen Wandel von Organisation und der Rolle von Arbeit, 3. zu "autonomen" technischen und informatisierten Systemen und der Rolle des Menschen, 4. zu den Folgen des demografischen Wandels für die Arbeitswelt und 5. zu transnationaler Arbeits- und Organisationsgestaltung. In allen fünf Forschungs- und Gestaltungsfeldern ist zu beachten, dass mit Produktions- und Dienstleistungsarbeit strukturell unterschiedliche Anforderungen an Arbeit und Arbeitsgestaltung verbunden sind. Insofern besteht zu den genannten Themen FuE- Bedarf für beide Arbeitsbereiche. IV. Handlungsempfehlungen Deutschland braucht ein auf soziale und technische Innovationen ausgerichtetes Forschungs- und Aktionsprogramm "Arbeit der Zukunft". Dieses Forschungs- und Aktionsprogramm muss durch eine intelligente programmatische und administrative Gestaltung begleitet werden. Forschung und Praxis, Wissenschaft und Wirtschaft, Beschäftigte und Arbeitgeber, Unternehmen, Beschäftigte und Kunden müssen so eingebunden sein, dass die vielfältigen Interessen sich im Gesamtprogramm widerspiegeln, ohne einander zu hemmen. Dies ist keine unmögliche Aufgabe, sondern sie findet ihre Vorbilder im damaligen Forschungs- und Aktionsprogramm "Humanisierung des Arbeitslebens" sowie in den nationalen Initiativen der neueren Zeit. Das nationale Forschungs- und Aktionsprogramm umfasst forschungs-, wissenschafts-, bildungs-, sozial- und wirtschaftspolitische Facetten. Die für die entsprechenden Felder zuständigen Organisationen werden auf eine enge Zusammenarbeit verpflichtet. Federführend sollte das für Forschung verantwortliche Ressort mit seiner für das Arbeitsforschungsprogramm verantwortlichen Organisation sein. Kernelement einer zukunftsfähigen Arbeitsforschung ist die Forschungskomponente dieses Programms. Das eigenständige Arbeitsforschungsprogramm mit einer entsprechenden nachhaltigen finanziellen Ausstattung steht im Mittelpunkt. Es wird von einer Organisation begleitet und administriert, deren Auftrag, Aufbau und Ausstattung den übergreifenden Zielen gerecht werden. Auf Ebene der Länder und der regionalen Forschungseinrichtungen wird der Ausbau der Wissenschaftsinfrastruktur - unabhängig von der Projektförderung des Bundes - Sichergestellt. Bildungspolitik muss die Verbindung zwischen der Arbeitsforschung und den Maßnahmen der Aus-, Fort- und Weiterbildung sicherstellen. Aufgabe der Sozial- und Wirtschaftspolitik wird innerhalb des Forschungs- und Aktionsprogramms die Sicherstellung der Umsetzung und des Transfers sein. Dazu gehören die Stärkung der entsprechenden Organisationen, aber auch die Entwicklung der Umsetzungswege durch Anreize für die betroffenen Organisationen - einschließlich der öffentlichen Dienste - und durch Maßnahmen der Regelsetzung. Damit können auch die entsprechenden Rahmenbedingungen für einen modernen Arbeits- und Gesundheitsschutz geschaffen werden.
Die Aktivitäten der verknüpften Politikfelder sind in einen breiten gesellschaftlichen Diskurs einzubetten, der Unternehmen, Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen, Innovatoren und Politik zusammenführt. 1 Die Arbeitsforschung und Arbeitswissenschaft haben diesen Prozess konstruktiv begleitet, zumal er wesentliche Kriterien einer menschengerechten Arbeit - beispielweise Ganzheitlichkeit der Aufgabe, Vielfältigkeit der Anforderungen, Möglichkeiten zu sozialer Interaktion, Autonomie sowie Lern- und Entwicklungsmöglichkeiten - erfüllte. |